Surprising Salon Session No 9: Einmal Entwicklung mit Erfüllung bitte!

Das vollendete Werk

Macht stolz. Und ist doch nur ein neuer Anfang. Es ist nie genug. Solange die Menschheit sich nicht in Frieden ihres Daseins freut gibt es noch unendlich viel zu tun. Sisyphos lässt grüßen. Wenn ich unser Buch so betrachte, dann stellt sich mir als erstes die Frage: Wird es wohl gelesen werden? Und wenn ja – was wird daraus erwachsen? Das Werk ist tatsächlich erst vollendet, wenn es ankommt. Aber was genau soll ankommen, wenn es um einen Prozess geht? Den Prozess der Menschwerdung im Sinne der Entwicklung von Mitmenschlichkeit im Einzelnen und einer auf Miteinander basierenden Gesellschaft im Ganzen. Ist dieser Prozess jemals zu Ende? Kann er das überhaupt sein? Kann es jemals so viele „reife“ Menschen geben, dass sich „das Blatt wendet“?

Füllhorn der Menschlichkeit

Eigentlich dreht sich alles um die Antwort auf die Frage: Wann ist menschliche Entwicklung tatsächlich erfüllend? Also Raum und Zeit sinnlich ansprechend und sinnvoll füllend. Ich spreche hier nicht von vorübergehenden Zuständen des Glücks, der Dankbarkeit, der Zufriedenheit. Ich spreche hier von einem tiefen Grundgefühl, auf dem „richtigen Weg“ zu sein. Und davon, diesen nicht alleine zu gehen, sondern mit vielen anderen und zum Besten aller. Friedlich, freudvoll, frei. Ist das Utopie? Falsche Frage.

Denn: Zahlt es sich denn überhaupt aus, für weniger als für diese Utopie zu leben? Ab wann ist eine Utopie unrealistisch? Meiner Ansicht nach dann, wenn sie entkoppelt von den Vorstellungen und Bedürfnissen der Menschen ein abstraktes Dasein führt und Menschen dazu zwingt, ihre Menschlichkeit starren Regeln zu unterwerfen. Die Verwirklichung von Ideen und Idealen muss jedenfalls bei der Wirklichkeit ansetzen. Aber es gibt so viele Wirklichkeiten… So viele wie Menschen.

Evolution gut und schön

Aber wohin? Wohin schreiten wir, als „Menschheit“, fort? Wer ist „die Menschheit“ wenn nicht eine Ansammlung aus Individuen, die sich in formbaren Gemeinschaften aus Gründen der sozialen Stabilität formieren. Haben Menschen überhaupt ein Gefühl dafür, Teil „der Menschheit“ zu sein und deren Entwicklung mitzugestalten? Und haben wir überhaupt einen Einfluss auf die weitere Entwicklung? Ja, wir haben. Synchronisation heißt das Zauberwort. Menschen wirken auf sich und auf andere in jedem Augenblick ihres Seins. Manche wirken stark, so stark, dass sie als Vorbilder Veränderungen initiieren oder kanalisieren können. Andere Menschen wirken gemeinsam, wirken zusammen und können dadurch großen Einfluss nehmen, größere Menschenmengen bewegen. „Der Schwarm“. Aber ob der immer intelligent ist…? Wer stellt sicher, dass sich die Menschen und die Menschheit in die „richtige“ Richtung fort bewegt? Moral, Ethik, Glaube? Nicht als abstrakte Schrift, nicht als normative Regel, nicht als bebilderter Buchtext oder langweiliger Bildungsinhalt. Bleibt etwas reine Theorie oder wertende Handlungsanweisung, so wird es selten gern gelebt. Klar wäre es vielleicht sinnvoll. Aber es ist in dieser Form nicht sexy, nicht attraktiv, schlicht nicht sinnlich.

Reicht es andererseits, auf negative Mobilisierung zu setzen? Auf die drastische und dramatische Darstellung diverser Katastrophenszenarien? Sollten wir verstärkt auf die Bedrohungen durch Klimawandel über Ressourcenerschöpfung, Radikalisierung bis Krieg, Finanzcrashs oder Verrohung von Einzelnen, Bildungsabbau der Gesellschaft und Emotionalisierung der Politik setzen, sie immer mehr und emotionsgeladener ins Feld zu führen, um Menschen zu aktivieren? Um die Notwendigkeit einer anderen Entwicklung zu unterstreichen? Nein. Angst und Bedrohung reichen nicht. Da muss was Stärkeres her.

Was motiviert zum Mitmenschlichsein?

Die Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung von Körperzuständen, Gefühlen und Gedanken wie Verhalten unterscheidet den Mensch vom Tier. Solange er aber noch unreflektiert von seinen Trieben, Begierden und Gewohnheiten in seinem Verhalten angefeuert wird, ist der Unterschied zur Tierwelt nicht allzu groß. Erst mit der bewussten Wahl, nicht nur auf das eigene Wohl zu sehen, sondern „Ich“ und „Du“ gleichberechtig zu behandeln, entsteht ein neuer Raum, der verändertes Handeln ermöglicht. Warum ist dieser Raum so wichtig? Weil uns heutzutage sowohl der Raum als auch die Zeit abhandenkommen. Wir werden immer mehr Menschen, die einander zunehmend wahrnehmen. Ja, wahrnehmen müssen, weil sie nicht mehr auszublenden sind. Auf den Straßen, im Internet, in den Schulen und Universitäten, am Arbeitsmarkt, am Markt der Waren und Dienstleistungen generell. Die Fülle ist überwältigend. Wer „mitmenschlich“ agieren will muss scheinbar zum selbstlosen Heiligen mutieren angesichts dieser schieren Überzahl. „Wer kommt und kettet sich die Welt ans Bein – möge die Macht, mit ihm sein…“ singen SEEED. Aber schönerweise heißt der Songtitel „Deine Zeit“: „Diese Zeit, ist Deine Zeit, und Du meinst, Du seist noch nicht so weit – doch jeder Tag, ruft Deinen Namen, Du weißt, Du hast keine Wahl!“ Und damit sind wir schon bei der „Moral von der Geschichte“: Wer, wenn nicht wir? Mehr Motivation gibt es nicht.

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Surprising Salon Session No 7: Die Grüne Fee

„Die Grüne Fee“

So wurde dieser quietschgrüne Flascheninhalt früher genannt: Absinth galt einst als begehrtes Heilelixier, dem van Gogh, Gauguin und Toulouse-Lautrec ebenso frönten wie Poe, Crowley oder Hemingway. Alles herausragende Künstler, die an die Grenzen des Bekannten – oder ihrer selbst gingen. Und darüber hinaus. Thujon heißt die spannende Essenz, die der Grünen Fee ihre Flügel verleiht. Das Nervengift ist ein Bestandteil des ätherischen Öls des Wermuts und ruft in höherer Dosierung vor allem Verwirrtheit und epileptische Krämpfe hervor. Im 19. Jahrhundert waren es Halluzinationen und Wahnvorstellungen, die der Grünen Fee ihren illustren Beigeschmack gaben. Dafür wird heute die damalige schlechte Qualität des Alkohols verantwortlich gemacht.

Blicke ich auf die zauberhaft schimmernde Flasche auf meinem Glaskasten – ein Überbleibsel meines letzten runden Geburtstages – so haucht mir aber weniger eine Welle brachialen Anisdufts als vielmehr eine leise Ahnung von Laudanum entgegen. In meinen Gehirnwindungen hat sich vor Jahrzehnten das Bild des im Film Gothic als giftgrün dargestellten Wundermittels festgekrallt. In jedem Fall umgibt auch den Absinth der heutigen sachlich-nüchternen Zeit noch eine Idee von Wahnsinn und exzessivem Rausch. Der „Wahn-Sinn“ im Sinne eines „Außer-sich-Seins“ scheint in unseren Tagen jedoch weniger zum Vergnügen der Erwachsenen beizutragen als vielmehr Bestandteil jugendlicher Ausschweifungen zu sein. In Pillenform etc.

Erwachsene hingegen belohnen sich nach vollbrachtem Tagewerk eher mit einem Bier oder mehreren guten Gläsern Wein. Ich erinnere mich noch an die Generation meiner Eltern, in der unbeschränkter Alkoholgenuss und ausschweifende Trinkgelage irgendwie fast zum täglichen Leben gehörten. Vom Zigarettenrauchen mal ganz abgesehen. Dagegen sind wir mittlerweile eine langweilig nüchterne Gesellschaft geworden. Ich habe den Eindruck, dass das feuchtfröhliche „Feiern“ früher integraler Bestandteil des Alltags war – und dass es tatsächlich in mehr Fröhlichkeit mündete als es das heute tut. Sofern heute überhaupt noch gefeiert und nicht nur getrunken wird.

Abstinenz total

Frohsinn, wo bist du hin? Nicht dass ich glaube, dass Alkohol wirklich froh macht. Aaaaber. Irgendwie scheinen die Menschen heute nicht und nicht glücklich im Sinne von leicht und wohlgestimmt werden zu können. Oder zu wollen. Mit oder ohne Hilfsmittel. Schade eigentlich. Da könnten wir doch gleich den Kopf in den Sand – oder in die Flasche – stecken. Oder?

Nicht wirklich. Denn dadurch wird nichts besser, nur vernebelt, verdrängt, wir bekommen für ein paar Momente scheinbar mehr Raum für uns und die guten Gefühle in uns. Sie vergehen aber so schnell, meist schon am selben Abend, dass man ob der fehlenden Nachhaltigkeit des Frohsinns zurecht an der Güte dieses beseelten Zustandes zweifeln kann. Gerade in der Fastenzeit finden so manche wieder zu einem klaren Kopf. Dann stellt sich eine andere Frage: Wollen wir in aller nüchternen Klarheit und emotionalen Empfindungsfähigkeit tatsächlich sehen und fühlen, was sich so rund um uns herum tut?

Es grünt nicht mehr so grün

Die Wege zum Glück scheinen heutzutage weniger grün, weniger erfolgsversprechend zu sein als früher. Der Wirtschaft geht es nicht gut, das Elend der Welt dringt in unsere ehemals geschützten vier Wände ein. Obwohl die Armut weltweit weniger wird, bekommen wir jetzt viel mehr davon mit. Waren der Hunger und der Krieg in der guten alten Fernseh- und Zeitungszeit vorwiegend über Nachrichten aus fernen Ländern vorhanden, so bringt unsere Informations(flut)gesellschaft und die Mobilität der Welt alles, was wir ehemals als „fernab“ von uns gesehen haben, quasi vor unsere Haustüre, in unsere Handys, in unseren Gefühlshaushalt. Aber was tun damit? Wohin orientieren wir uns, wenn die Welt scheinbar zugrunde geht (was sie ja nicht tut – wir bekommen nur mehr mit von den brennenden Themen und ungelösten Aufgaben auf der ganzen Welt)? Und wenn wir uns nicht mehr in kurzfristigen Räuschen eine heile Welt vorgaukeln können oder wollen: Was tun wir stattdessen sinnvollerweise? Wie gehen wir mit der Großen Nüchternheit, mit der Ernüchterung unserer Zeit und dem Bewusstsein über die überlebensgroßen Aufgaben auf und in unserer Welt um?

Der Flaschenhals unserer Zeit

Während die einen versuchen als Gegenwegung zur Ablenkung in vermehrter Achtsamkeit zu schwelgen, aber nur selten überschäumend glücklich sind, weil es so wenige Gleichgesinnte ohne Moralisierungsdrang zu geben scheint, laufen die anderen immer noch irgendwelchen vermeintlichen äußeren Heilsbringern nach: Geld, Macht Karriere. Dritte wollen ein klares Gefühl von Sinn und Wert, Vierte von Zugehörigkeit und Sicherheit. Was Menschen heute suchen, oft ohne es zu wissen, ist ein Zaubermittel gegen die Hilflosigkeit unserer Zeit. Ein Rezept gegen die Überforderung durch die unendlich vielen offenen Baustellen. Ein Elixier, dass uns rausbeamt aus dem unübersichtlichen Grau von Alltag und unbewältigter Welt. Es handelt sich beim Gesuchten um ein Wundermittel, nach dem wir uns tief drinnen sehnen: Einem grünen, weil vielversprechenden Weg zu mehr Vertrauen. Zu tiefer Zuversicht. Zu echter Zufriedenheit im Sinne von: im Frieden mit sich sein. Was führt uns bloß dorthin? Wo sind sie, Friede und Freude in uns, diese beiden wonniglichen Hochgefühle. Das eine ist still und weit. Das andere hoch und ekstatisch. Vertrauen, Zuversicht, Zufriedenheit – und enthusiastische Höhenflüge. Das ist eine Mischung, an die man sich vielleicht mit viel Glück noch aus der Jugend- und Studentenzeit erinnert.

Auf und Ab

Aber gibt es die unbändige und ungezügelte Macht der Intensität ohne unerwünschte Nebenwirkungen? Was sagt der Beipackzettel des Lebens? Nein. Mit der Zeit wird man klüger, aber auch müder. Wacher, aber auch langsamer. Man kommt von ganz alleine an. Nämlich dort, wo einen die Entscheidungen seines Lebens hinführen. Der Lebensweg liegt jetzt nicht mehr frühlingsgrün und unberührt von einem. Hier dominiert bei manchen dann der fade Geschmack des Alltags schon das morgendliche Aufwachen. Er zieht sich durch, bis zum abendlichen Belohnungsgläschen. Der vertrocknende Weg des Immergleichen versetzt selbst den Versuch, das Leben zu feiern oder sich zumindest für seine täglichen Anstrengungen zu belohnen, mit hauchzarter Bitterkeit. Wo das überschäumende Feiern fehlt, da gibt es wenigstens kein Kopfweh danach. Sollte man meinen. Aber sind wir deshalb glücklicher, nur weil wir vorauseilend die Nachwirkungen zu vermeiden suchen?

Kein Weg zurück

St. Patricks Day war diese Woche. Ein ehemals freudvoll grüner Tag. Ein traditioneller Anlass für ein kollektives fröhliches Besäufnis. Wie viele „Feiernde“ waren aber auch dieses Jahr dabei nicht happy, sondern wurden mit jedem Bier zunehmend trübsinnig oder aggressiv? Die Grüne Fee bzw. das Grüne Bier wirken nicht mehr. Die Zeit der Ablenkung, des Verdrängens ist vorbei. Wir stehen heute vor der immensen Aufgabe, die Last unseres Lebens und der Welt in voller Nüchternheit zu tragen, ohne uns effektiv davon ablenken zu können.

Wo ist er hin, der Weg ins Grüne? Diese Frage hilft nicht weiter, denn das Bemängeln des Fehlens der von Sentimentalität verzerrten Vergangenheit eröffnet uns keinen neuen Weg. Wollen wir wieder zuversichtlich sein und die Intensität des Lebens in vollen Zügen genießen, so müssen wir anders denken, anders handeln, anders erleben als bisher. Wir sind heute dazu aufgefordert, Grün in uns zu pflanzen. Damit wir selbst Grün werden. Wir sollten uns am Leben berauschen. Einen tiefen Lungenzug von jedem Moment der Existenz nehmen. Mit jedem Gedanken einen Schluck vom Glück des Daseins genießen. In jede Entscheidung einen großen Schuss Mut und Liebe mixen. In jeden Schritt ein champagnerperliges Gefühl von Aufregung, Anregung, Rührung legen. Suchen wir nicht mehr in der Vergangenheit oder in Ablenkung unser Glück. Blühen wir statt dessen grundlos auf. Denn heute sind wir die Grünen Feen. Und alles wird, nein ist, gut.