Das Trumm des Tages
In meinem „Salon“ – dem großen Raum, in dem ich täglich schreibe und niemals schlafe, selten feiere und noch seltener fernsehe, meistens sitze und friere oder alternativ sitze und schwitze – da steht so allerlei herum. Wie auch dieses Trumm: Es tönt gar grässlich, wenn man darauf bläst. Daher hatte es meine Großmutter konsequenterweise auch einst aus dem Fenster geschmissen. Das war zu einer Zeit, als mein Vater noch ein des Trompetenspiels hartnäckigst unkundiger und zum lauten Getöse höchst williger Bub war.
Seither hat es, das Trumm, einen eleganten Knick im Rüssel, für den es sicher einen Fachbegriff gibt (für den Rüssel, nicht den Knick). Der Knick ist definitiv irgendwie cool. Wie eine wohlverdiente Narbe oder ein richtig böses Tattoo auf einer seidenzarten Pobacke. Er erinnert mich aus dem Augenwinkel – denn dort ist die Trompete platziert, schief stehend auf dem unbeachteten Flügel – ständig subtil daran, dass nichts im Leben wirklich glatt läuft. Mit einem Augenzwinkern sagt er, dass der Knick im Sein quasi mit eingebaut ist, serienmässig. Das Feature schlechthin, wenn man so will. Denn wer einen Knick hat, dem wird nicht fad. Und wer laut ist, der muss mit noch mehr Knicken rechnen. Der Lebensweg wird geradezu erst von Knicken ausgestaltet. Knicke werden Dingen und Menschen, Konzepten und Plänen, Erwartungen und Hoffnungen, Höhenflügen und Perfektionsvorstellungen immer wieder zugefügt. Knicke leiten hinein in die Realität, in den Tiefgang, ins Unglaubliche. Sie formen uns zu dem Menschen, der wir sind. Jeder Knick in unserer Optik bleibt erhalten – und sei es nur als Erinnerung. Ein Knick in der eigenen Optik, im Selbstbild und im Bild, das andere von uns haben, wird sukzessive eins mit dem Material, das uns ausmacht. Das muss uns nicht stören, das kann uns auch ehren.
Knickomat
Wir sind und wir werden immer wieder geknickt. Unser Blick fällt von ganz alleine auf die Knicke. In uns, um uns, bei anderen. Nicht das Gerade, Erwartbare fällt uns auf. Es ist das Außergewöhnliche, das uns unter Strom stellt, das die Alarmglocken zum Klingeln bringt. Es ist das nahende Ungeahnte, der nächste Knick im Lebenslauf, in der Gesundenakte, auf der Karriereleiter, im Beziehungsleben, der unsere Aufmerksamkeit magnetisch anzieht – weil er kommt. Und er kommt, weil er kommen muss. Der Fehlschlag ist der Große Bruder des Erfolges. Er lässt jeden Erfolg verblassen und damit zugleich über sich selbst hinaus wachsen. Wir überhöhen, was nicht (mehr) der Fall ist. Und wir konzentrieren uns auf das Unvollständige, das, was nicht sein soll. Meine Tante würde an dieser Stelle ihre Großtante und deren legendär einfache und zeitlos wahre Worten zitieren: „Immer is wos!“
Tröööt
Das Ding der Woche ist also ein(e) Trumm-Pete. Interessanterweise heißt mein Vater Peter. Er war einst also ein Trom-Peter. Aber zurück zum Eigentlichen. Der Knick und sein Grund. Der Grund war das Besonders Übel Laut Tönen, das Stören, das Unerträgliche Geräusch, das alle Aufmerksamkeit auf sich wie ein schwarzes Loch des So-Soll-Es-Nicht-Sein zog. Auch heute noch tönt es an allen Ecken und Enden unerträglich laut. In der Realität, im virtuellen Netz, in den Medien, in der Arbeit, in der Schule, zuhause beim Streiten. Menschen mit eigenen Meinungen haben die Macht, laut zu tönen. Aber sie nutzen diese Macht auffallend oft zum reinen Spaßhaben an der Lautstärke, zum puren Generieren von Aufmerksamkeit für sich anstatt zur Kommunikation hilfreicher Inhalte. Sie Trump-eten. Ja, auch der amerikanische Präsident stellt einen gewaltigen Knick in der Optik dar. Nicht nur der Optik Amerikas. Laut ist er, irgendwie verstörend. Aber aus dem Fenster werfen kann man ihn nicht. Er selbst hat wahrscheinlich auch den einen oder anderen Knick weg – oder vielleicht gerade nicht? Vielleicht ist er so ein lautes Trumpeltier, weil ihm noch niemand einen echten Knick verpasst hat, der ihn von der oberflächlichen Sucht nach Aufmerksamkeit in die Tiefe der Selbstbetrachtung geführt hätte? Oder bekam er ganz im Gegenteil schon ganz früh seinen Knick ab? Und versucht jetzt sich und der Welt zu beweisen, dass er die größte und lauteste Trompete von allen ist? Koste es, was es wolle – Fakten, Geld, Versprechen, Integrität, Zukunft – der Lauteste gewinnt. Und laut ist nicht nur, was eine hohe Dezibelanzahl hat (in der Sprache moderner Gesellschaften: viel gesellschaftlich-mediale Frequenz und Reichweite, sowie (gesellschafts-)politischen Einfluss). Laut sind auch besondere Störfrequenzen: Angst, Hass, Wut, Neid, Ekel – alle besonders unangenehmen Gefühle lösen das Gefühl, schwer irritiert und höchst unangenehm berührt zu werden aus. Störenfriede stressen uns. Sie zwingen uns zu reagieren.
Der Trick mit dem Knick
Und hier kommt der Trick mit dem Trump-Knick: Das unbestreitbar Störende, das offensichtlich Unglaubliche, das unfasslich Bedrohliche zwingt uns aus unserer eigenen Komfortzone hinaus und hinein in die Auseinandersetzung mit uns und der Welt. Indem die Trumpete selbst offenbar keinerlei Selbstreflexion, kaum einen Plan für die Zukunft und wenig Vertrauenswürdigkeit in die Welt trötet, löst sie in anderen all dies aus: Die Fragen nach dem „Wer sind wir und wer wollen wir sein?“, dem „Wo entwickelt sich die Welt hin und wo wollen wir überhaupt hin?“ und „Wie vermeiden wir den nächsten Knick?“ drängen sich uns geradezu auf. Und das ist gut so. Denn Die Menschheit hat jetzt noch die Chance, einen gemeinsamen Weg einzuschlagen und den Knick zu verstehen, zu sehen und zu ehren. Als Zeichen dafür, dass es anders geht und dass jeder, auch der nächste, Knick zu mehr Erfahrung und vertiefender Erkenntnis führen kann – wenn man dies denn so sehen will. Wir können auch einfach nur geknickt sein. Knick oder nicht Knick: wir haben (immer noch und immer wieder) die Wahl.