Silver Sounds of Silence: 8

Timeless

Stille, als Phänomen der Zeit erlebt, ist ein wundersam flexibles Nicht-Ding und wahrlich überall zu Hause, solange man nur hinhören möchte. Sie findet sich etwa in den bedeutungsschwangeren Pausen von Musik, die vor allem in der Klassik äußerst bewusst gesetzt, ja geradezu dezent unverhohlen zelebriert werden. Jene aufregenden klanglichen Leerräume, die die Fülle des Geschehens – seien es der Nachhall eines fulminanten orchestralen Crescendo oder der nahende einsame leise, sehnsüchtig-schöne Ton einer Violine – so besonders werden lassen. Im Pop andererseits gibt es nahezu keine Pausen, die nicht in die rhythmische Struktur einzahlen würden. Sie existieren damit weniger eigenständig, sondern sind ein Teil des Klangbildes. Diese Art der Musik lädt nur selten mit gänzlich stillen Phasen zum Verweilen im Sein, zum Nachspüren oder zum subtilen Vorahnen ein. Auch der berühmte Drop in der elektronischen Musik hat im Moment der Stille (bzw. des reduzierten Klanges auf eine rhythmusarme Soundkulisse) einen zwar unhörbaren, jedoch spürbaren Beat, den man unweigerlich mitgroovt, in Vorfreude auf den (das?) kommende(n) Wumms. Im 08/15-Radio drängt sich eine Soundkulisse an die andere, DJs mischen eine Soundwand in die nächste. Bloss keine Stille aufkommen lassen, scheint die Devise, die Aufmerksamkeit könnte sich ja anderen Dingen zuwenden. Doch nicht hier in diesem Blog, nicht mit uns! Wir widmen uns den gar nicht langweiligen Seiten der Stille, heute noch einmal unter dem Aspekt der Zeit bzw. der Zeitlosigkeit. Es gibt da nämlich die kleinen Brüche in der Selbstverständlichkeit der Vergänglichkeit, durch die wir beständig fließen – und dann wären da noch die Wirklich Großen, spektakulär lebensverändernden, die uns aus dem Fluss der Dinge gnadenlos herauskatapultieren…

Wenn die Zeit stillsteht

Intensität lässt uns im ewigen Fluss der Dinge endlich innehalten. Der erste Schluck vom kühlen Bier am frühen Abend im Sommer, der erste Bissen im Hundert Hauben Restaurant, das nur alle Hundert Jahre einen Platz frei hat, den man sich auch nur alle Hundert Jahre leisten kann. Der erste Orgasmus nach längerer Pause. Überhaupt Premieren oder wertvolle Seltenheiten aller Art. Sie zu erleben verlangsamt die Zeit, bis das Verweilen mit ihnen, durch sie, dermaßen köstlich wird, dass der eigene Film des Lebens kurz stoppt. Oft nur allzu kurz. Seufz. Das Hirn setzt wieder ein, mit seinen Kommentaren, Vergleichen, Bewertungen, genialen Ideen – oder alltäglichen Plappereien. Geht das Gelaber im Kopf los, ist der Eine Moment der Zeitlosigkeit wieder vorbei. Diese Genussinseln, die uns fast außerhalb der Zeit bringen, ähneln einem Gummiband, das zwar ordentlich gedehnt wird, aber nicht reißt. Was ja auch sein Gutes hat, denn einen Filmriss erfährt wohl kaum jemand gern.

Wenn die Zeit aufhört zu existieren

Der Große Bruch im steten Kommen und Gehen von Augenblicken, umspült uns wesentlich weniger sanft und freudvoll. Es sind die Schockmomente, die das Raumzeitgefüge tatsächlich reißen lassen. Der plötzliche Tod eines nahen Menschen. Der eigene Unfall, der in Zeitlupe abläuft, bis die Zeit zu einem Ende kommt und man weg vom Fenster der bewussten Wahrnehmung ist. Plötzliche Störungen im erwarteten Lauf der Dinge, die ans Eingemachte gehen, existenzielle Fragen aufwerfen oder gar die Existenz selbst fraglich werden lassen. Intensive Gewalt jeder Art. Vielleicht ist es das, was SM-Anhänger so angenehm am Schmerz finden, dass die Zeit stillsteht? Gedanke beiseite, zurück zum Ernst des Lebens.

Die vier großen Themen, die laut Psychologie von uns Menschen niemals endgültig beantwortet werden können, sind dazu geeignet, die Zeit in ihrem nahtlosen Dahingleiten zu unterbrechen und ein Leben, das auf Schiene war, spontan oder allmählich entgleisen zu lassen. Uns den Abgrund hinabstürzen und unten angekommen, innehalten lassen. Irgendwie auch ankommen lassen. Im vorstellungsfreien, erwartungslosen Sein selbst. Die 4 Fragen betreffen das Leben selbst, die Freiheit, die Einsamkeit und den Tod. Wenn geliebte Menschen sterben, betrifft dies alle vier Große Fragen. Der Wegfall eines wichtigen Menschen im persönlichen Gefüge stellt nicht nur die Fragen nach einem gelungenen Leben (für den Verstorbenen und für einen selbst) oder nach dem Wesen des Todes (gibt es ein Existieren danach?). Wir sind darüber hinaus traurig, weil wir uns einsamer fühlen (bis wir die im Außen fehlende Person in unserem inneren System durch Repräsentation zu anderem, für die Spanne unseres Daseins ewigen Leben erweckt haben). Und durch den Verlust entsteht letztlich auch eine neue Freiheit. Es wird ein Platz frei, wo vorher eine Person Raum, Zeit, Energie, Vorstellungskraft etc. eingenommen hat. Wenn ein lieber Mensch aufhört da zu sein – und sofern wir uns nicht diversen Vorstellungen vom Jenseits hingeben, um uns zu trösten – werden wir mit der endgültigen Stille, quasi der GROßEN STILLE, konfrontiert. Das schwarze Nichts, das der eigentliche Grund ist, warum viele Menschen wohl die geräuschlose Ruhe, den ereignislosen Frieden und besonders die innere Stille fürchten. Die GROßE STILLE verlangt uns einen hohen Zoll ab, nichts weniger als Selbstaufgabe. Wir können sie nur akzeptieren, indem wir unsere Endlichkeit hinnehmen, annehmen. Doch Hand aufs Herz: wer kann das schon? Ich meine nicht intellektuell – zu verstehen, dass wir alle sterben müssen und werden, ist naheliegend. Sondern emotional – zu fühlen, wie es ist zu sterben und gestorben zu sein, das kann uns Lebenden nicht recht gelingen (auch Nahtoderfahrungen sind wahrscheinlich nicht „the real thing“). Da der Zustand des Tod-Seins nicht vorfühlbar, also gefühlsmäßig vorstellbar ist, entzieht er sich jeder Antizipation. Wie soll man aber dann den Tod akzeptieren können, außer ihn einfach hinzunehmen, indem man sich selbst (das Bild, das man von sich im Leben hat) und jede Vorstellung, also das Denken selbst, im Angesicht der unausweichlichen Unnahbarkeit des Todes aufgibt? Wer kann man schon groß sein, wenn es darum geht, dem Tod ins Auge zu sehen? Ein Lebender, der dem Ende entgegenblickt. Nicht mehr, nicht weniger. Kein Wunder, dass in diesen Momenten der endgültigen Wahrheit die Zeit stillsteht. Und wenn das Denken und die Gefühle zur Ruhe kommen, weil nichts mehr geht, kommen wir im Augenblick an, willenlos, wolkenlos, wahllos. Ruhe, in Frieden.

Werbung