SPECIAL SCREEN SCRIPT 19: Improvisation als Inspiration

Der Unterschied zwischen Genie und Pfusch

Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter „improvisieren“ einen Akt der kreativen Problemlösung ohne dabei professionelle Materialien bzw. Techniken zu verwenden oder überhaupt eine tiefere Kenntnis der Materie zu haben. Wenn etwa der Waschmaschinen-Schlauch ein Loch hat, dann wird er mit Klebeband umwickelt, statt fachgerecht ausgetauscht. (Ja, ich spreche aus Erfahrung ;-)).

Die Elemente Spontaneität und Kreativität als Antwort auf einen unvorhergesehenen, unerwarteten Auslöser sind hier zwar auch vorhanden. Dennoch unterscheidet sich das „Pfuschen“ von der „Kunst der Improvisation“ in drei wesentlichen Aspekten: nämlich in der Kunstfertigkeit, in der Einzigartigkeit und in der Nachhaltigkeit der Problemlösung. Im besten Fall entstehen nämlich aus ursprünglich ungeplanten, spontan entstandenen neuen Wegen ganz neue Regelformen, also ein neues System oder eine neue Machart – zum Beispiel Innovationen in der Technik oder auch eine neue Musikform. Der Jazz ist ein Paradebeispiel für eine solche Entwicklung aus der recht starren Form der Klassik in einen hochprofessionellen Kreativraum, der ungleich mehr Spielmöglichkeiten für einen Musiker aber auch zwischen den Musikern zulässt.

Jazz als Kunstform 

Gerade Jazzmusiker müssen zunächst Meister ihres Instrumentes sein und verschiedene Musikstile meisterhaft beherrschen. Hier wird eben nicht mehr „vom Blatt“ gespielt. Es werden in der hohen Kunst des Jazz nicht nur bereits vorgegebenen Formen möglichst präzise und fein wiedergegeben. Natürlich kennt der Jazz ganz viele Regeln, wie Stilformen, Rhythmen, Spielweisen und Interaktionsweisen. Aber diese müssen vollständig internalisiert, also beherrscht werden, um sich zu jenen einzigartigen Momenten hochzuschwingen, in denen „alles fließt“ und daraus, darüberhinaus Neues, noch nie Gehörtes entstehen kann. Miles Davis war ein Vorreiter im „anders spielen“, im Verändern der Gebrauchsweise einer Trompete oder der Hörgewohnheiten des Publikums und des musikalischen Zusammenspiels mit anderen Musikern. Man sagt, dass er alleine die Musikwelt etwa 4x revolutioniert hat (Bebop/maximale Virtuosität, Cool Jazz, Modaler Jazz, Fusion). Seine Soli und Spielweisen waren so ungewöhnlich, dass auch die Mitmusiker zum Grenzgang ihrer gewohnten Spielarten aufgefordert wurden. In seinem Umkreis entwickelten viele Größen ihre musikalische Persönlichkeit, etwa John Coltraine, Herbie Hancock, Joe Zawinul oder Chick Corea.

Was uns der Jazz lehren kann

Das Genie, das sich im spontanen Kreieren von Neuem zeigt, beeinflusst naturgemäß auch seine Umgebung. Solche Menschen und Augenblicke veranlassen aber nicht nur andere Musiker dazu, über sich selbst hinauszuwachsen. Ich behaupte, dass etwas Ähnliches in diesen Momentan auch beim Zuhörer geschieht: In diesem erlebten Freiraum, in dem ganz frische, ungeahnte Perspektiven spürbar werden, wird dem Publikum bewusst, dass es noch viel mehr zu erleben und zu entdecken gibt als bisher angenommen. Dass die Welt immer noch voller Überraschungen steckt und wir uns neugierig aufs Abenteuer der Entdeckungsreise einlassen dürfen…

Im besten Fall inspiriert uns ein solches Erlebnis noch weit nach dem Musikgenuss. Etwa dahingehend, dass wir Problemen auch mal völlig anders auf den Leib rücken wollen. Irritationen aller Art in Innovationen aller Art zu verwandeln – der Wille dazu ist, was unserer Welt heutzutage vielfach fehlt. Um diese Kunst zu wirken braucht es reife Menschen, die ihren Körper wie ein Instrument beherrschen und die die Systeme der Welt (etwa Wirtschaft, Politik oder Bildung) so verinnerlicht kennen wie Musiker ihre Musikstile – um über sie hinauszuwachsen. Sie können dann Irritationen, die in ihrem System auftauchen, in ihrer Intensität vollständig wahrnehmen und offenen Auges in ihren Ursache-Wirkungs-Verhältnissen erkennen. Sie können Querverbindungen zu anderen Systemen herstellen und Zusammenhänge sehen, wo andere im Dschungel der jeweils systeminternen Prinzipien verloren gehen. Und sie können an den Systemen selbst arbeiten, sie verknüpfen oder neu ausgestalten, anstatt in ihnen unterzugehen. Genies der alltäglichen Lebenswelt suchen den Raum des Neuen im Konzert des Gewohnten, gern auch im Chaos am Rand des Kommenden, Werdenden.

Die Kunst der Improvisation im Alltag 

In einer Jazzband gibt es klar zugewiesene Rollen, eine klare Arbeitsteilung, die durch die Eigenarten der Instrumente bedingt sind. Das Schlagzeug kann keine Melodien spielen, dem Bass gehören die tiefen Lagen, beide bestimmen den Rhythmus. Die mittleren Instrumente wie Piano oder Gitarre mischen sich nicht allzusehr in diesen Grundpuls ein, sondern unterstützen ihn oder setzen passend zum harmonischen Grundgerüst Akkorde, etwa als Synkopen. Das klingt kompliziert ist aber höchst spannend: denn es werden bewusst die zunächst erwarteten Muster vermieden und immer wieder neue rhythmische Modelle aneinandergefügt. Das Spiel ist dann passenderweise betont unlinear und auf Überraschung ausgelegt. Nicht nur rhythmisch sondern auch harmonisch. Das wiederum stimuliert weiters die Solisten in der Höhe, etwa Sänger oder Trompeter. Sie liefern  darauf aufbauend die durchgängigen Linien, die Melodien, welche letztendlich allen Instrumenten „darunter“ einen sinnvollen roten Faden verleihen.

Sind etwa Teams in Unternehmen derart auf ihre Fachgebiete und aufs virtuose Zusammenspiel eingestimmt, so herrscht eine überaus seltene und wertvolle Performance- und Improvisationskultur. Es werden individuelle und kollektive Höchstleistungen erbracht und die gegenseitige Stimulation führt immer wieder zu den notwendigen Neuerungen. Apple war lange Zeit ein führendes Beispiel für eine solche Funktionsweise des Sich-selbst-Übertreffens und immer wieder neuen Raum Eroberns.

Unique-ness als Schlüssel

Das Ziel des Jazz liegt meiner Ansicht nach im Schaffen und Erleben von „unique moments“ – und die besten Firmen erzeugen einzigartige Produkte, während die Mitarbeiter den Schaffensprozess selbst leidenschaftlich gestalten, weil sie sich und ihre Fähigkeiten optimal einsetzen können.

Ganz allgemein gesagt können wir Menschen aus dem Jazz lernen, dass Meisterschaft in einem Bereich erst der Anfang für wahre Größe ist, denn danach gilt es, sich über die Regeln so hinwegzusetzen, dass Neues entstehen kann, und zwar gemeinsam entstehen kann, in einer Form, die für alle Sinn macht. Die Lust an der Spontaneität, die Freude am kreativen Improvisieren, das gemeinsame Spielen im Raum des Unbekannten – das sind Aspekte, die wir gerade heute in unseren oft als unsicher, wenig vorhersehbar und daher unplanbar, unkontrollierbar erlebten Zeiten, dringend brauchen. Denn mit einer solchen Haltung kann die Lebensqualität in einer Zeit des steten Wandels tatsächlich steigen. Und das wollen wir ja eigentlich alle: Ein gutes, freudvolles Leben, unter allen Umständen. Eine Haltung des gelebten Jazz, als spontane Freude am kreativen, kunstfertigen, einzigartigen und im besten Fall nachhaltig wirksamen, weil die Regeln verändernden Problemlösen macht‘s möglich…

Interviewscript zu „Die Kunst der Improvisation: Zum Unterschied zwischen Genie und Pfusch“ in „Heute Mittag“ am 04.06.2017, ORF 2

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