Die Oma im Schafspelz
Da liegt ein Schaffell in meinem großen Zimmer und wohl-wollt so vor sich hin.
Meine Oma weich-wärmte frühmorgens ihr Wesen darauf an, was ihr ein strahlendes Lächeln bescherte. Jeden Tag am frühen Morgen, als sie aus ihrem Schrankbett im „Kabinett“ aufstand, war es soweit: Die Luft war ausgekühlt in ihrer winzigen Wohnung, die zumeist nur von einem kleinen Kohlenofen beheizt wurde. Sie streckte die Füße über den Bettrand herunter. Und dann kam dieser kostbare Moment, als sie eben noch nicht den harten kalten Boden der Realität berührte. Der Moment, in dem sie ihre Seele an der Weichheit des Fells erwärmte. Über ihre neugierig in das Fell vorfühlenden Fusssohlen übertrug sich ein immenses Wohlgefühl auf ihren ganzen Körper. Es landete über einen ausgiebigen Zwischenstopp in ihrem Herzen, der mit einem zufriedenen Seufzer quittiert wurde, sodann in ihrem liebevoll-lustigen Gesicht. Worauf sie einen weiteren Tag mit ihrem unvergleichlich sonnigen Lächeln begrüßen konnte. Dem Schaf sein Dank.
Die gute alte Zeit?
Kleine Dinge wie dieses Schaffell hatten mal große Bedeutung. Bevor der Konsumwahn unsere Sensorien für das bereits Existierende abstumpfen ließ. Bevor das „immer mehr, immer intensiver, immer neu(er)“ das „es ist einfach wunderbar, so wie es ist“ verdrängte. Nicht, dass früher alles besser gewesen wäre. Um beim Beispiel meiner Oma zu bleiben: Sie hatte bereits so viel Gräuel im Leben gesehen, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als das Schöne und Weiche in und um sich zu erspüren, denn Zerbrechen war keine Option. Das Leben was zu kostbar. Dieses tief empfundene Wissen brachte sie dazu, aus einem weit offenen Herz heraus zu strahlen. Sie wirkte auf ihre eigene Art höchst eindringlich. Ihr ganzes Wesen sprach: Das Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosen, seelenlosen, herzlosen Dingen zu verschwenden. Das Schaffell erinnert mich daran, dass auch Engel gern mal ihre Seele wärmen.
Weicher als Wolle(n)
Weich ist es, das Fell – und eigentlich ganz klein. Vielleicht von einem Lamm? Wurde es verspeist, damals, vor erahnten Ewigkeiten? Nur seine Weichheit ist geblieben. Ganz anders, als wenn es verarbeitet worden wäre, zu Wolle etwa. Warum ist ein ganzes Schaffell weicher als Schafwolle? Kann es daran liegen, dass in der Wolle, im aktiven Akt der Umwandlung des lebendigen Einen in ein nutzbares Anderes die reine Intention zur „Ver-Wert-ung“ zu fühlbarer Härte, zu Steifheit führt? Zugegeben, das scheint weich, äh: weit hergeholt. Dennoch steht fest: Das Fell ist unvergleichlich weich, und wärmt auch noch ohne dem Schaf darin. Es liegt und lockt hier in meinem Salon so vor sich und mich hin. Meine Augen berühren es, wenn ich am Computer sitzend nach links vorne blicke und unbewusst nach Inspiration suche. Oder nach Halt. Es strahlt selbst auf diese Distanz seine unvergleichliche Wärme aus, fast wie ein Kamin. „Weich und warm“ gehören zum gefühlten Anblick eines Schafspelzes schlicht dazu. Nur wo sich das Wollen unter der verführerischen Weichheit tarnt, da ist der Wolf nicht weit…
Weh und Wo(h)l(f)
Wohl-Wollen muss man zwar schon auch wollen. Aber nicht aus einem Zielbewusstsein heraus, nicht als Aufgabe, nicht als Mittel zum Zweck. Das wäre dann der Wolf im Schafspelz: egoistisch am eigenen Vorteil interessiert. Das Wohl der anderen vorschiebend, um das eigene Wollen zu rechtfertigen. „Es geschieht ja nur zu ihrem Besten!“ lautet so ein Satz wohl-wollender Machtbesessener. Mir fallen da etwa jene harten, herrischen Damen ein, die in karitativen Einrichtungen die Stimmung aller Frei-Willigen ordentlich mit Missmut, Aggression und Rechthaberei vermiesen. Oder jene selbstsüchtigen Herren in gewissen Schlüsselpositionen, die sich ihre „Hilfsbereitschaft“ in Form von Genehmigungen, Empfehlungen an den „richtigen“ Stellen, wesentlichen Informationen, Vor-Reihungen etc. ordentlich „bar auf die Kralle“ oder á la „eine Hand wäscht die andere“ vergüten lassen. Bei diesen Menschen wiegt das Wollen schwerer als das Wohl. Und die Weichheit weicht der Härte.
Wohltuendes Wollen
Echtes, wohliges Wohlwollen kommt aus der unendlichen Tiefe eines weit offenen Herzens. Das Herz öffnet sich aber erst dann mutig und letztendlich, wenn es nach vielen Erlebnissen, positiven wie negativen, mit einem Mal grenzenlos wird, weil es offen gelassen bleibt. Es spürt dann alles mit. Innen und Außen fliessen in einander, ganz ohne Sollen und Wollen. Diese Fähigkeit zu erlangen und mit ihr umzugehen bedarf zum einen der Erfahrung und zum anderen einer Entscheidung: Statt einen Schutzzaun aus Stacheldraht um das Verletzlichste in sich zu ziehen, erwächst wesen-tliche Verbundenheit auf dem weichen Boden der verinnerlichten Einsicht: Erst Mit-Gefühl wärmt die Seele. Die eigene und die anderer. Das zu lernen, braucht manchmal eine gehörige Portion an leidvoller Erfahrung.
So hat der Krieg das Herz meines Großvaters schwer getroffen. Manche haben in dieser Zeit ihr Herz ganz dem Schrecken geopfert. Andere haben überlebt, innerlich wie äußerlich. Sie leben Dankbarkeit und Freude, inneren Frieden und eben auch Mit-Gefühl. Ohne letzteres wäre wohl nur Vergessen möglich. Das Große, weil weit offene Herz vermag zu verzeihen, selbst wenn – nein, gerade weil es keinen Grund dazu hat. Denn das Herz selbst ist grund-los, seine Tiefe unergründlich, sein Raum unermesslich. Mit-Gefühl entspringt nicht nur dem Verständnis über die Wirren und Winkel des Menschlichen, Allzumenschlichen. Es entspringt auch dem Unwillen, sich zu verschließen. Und dem Wissen, dass man sich im Verschliessen vor der Welt auf einen harten Kern beschränken, sich selbst verkleinern, seine Möglichkeiten schrumpfen lassen würde. Mit-Gefühl erwächst schlussendlich auch aus dem Unvermögen wegzusehen, weil das Weg-Fühlen nicht (mehr) geht.
Wohl-Wollen ohne Ende?
Aber immer mitfühlend, unablässig Sorge für andere tragend, ständig für andere da seiend zu sein – das ist ein schwere Übung. Sind wir müde, haben uns einen Tag (oder viele Tage) lang um die Bürden und Nöte anderer gekümmert, sie aufgemuntert oder ihnen geholfen, sich selbst wieder zu finden, so können wir an einen Punkt kommen, an dem aus dem fruchtbaren Boden des Mitgefühls in uns die Erde mangels Aufmerksamkeit auf uns selbst schon mal kalt und hart wird. Wenn es zu viel war, wir ausgebrannt sind, echte Ruhe brauchen, dann scheint das un-eingeschränkte Mitgefühl zusätzlich unseren Energiehaushalt abzusaugen. Bodenlose Trauer, Depression, Ohnmacht oder Wut, Ablenkungen, fanatisches Abgrenzen, Schuldzuweisen oder Süchte können die Folgen sein. Spätestens dann wird es Zeit, die Füße auf ein warmes, weiches Schaffell zu stellen und zu lächeln.
Danke an all die Schafe dieser Welt…
…und an all die unzähligen liebevollen Wesen, die mit ihrer Wärme dafür sorgen, dass wir in lichten wie in schlechten Zeiten unsere Herzen öffnen können. Auf dass wir durch ihre Weichheit unser Wollen loslassen und wohlig in uns ankommen.