Demokratie auf dem Prüfstand
Ja, gegen Polen und Ungarn laufen EU-Verfahren, weil die demokratisch gewählten Vertreter dieser Staaten sich ihre nationalen Systeme so zurechtbiegen, dass dabei die Grund- und Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie unter die Räder kommen. Die Bevölkerung sieht dabei machtlos zu – und wird mit jeder Maßnahme weiter entmachtet. Warum uns das etwas angehen sollte? Weil diese Entwicklung mit verführerischem (Rechts-)Populismus begonnen hat. Und weil ebendieser für immer mehr Menschen in ganz Europa alltagstauglich zu werden scheint. Das muss uns zu denken geben, denn wenn wir nicht darüber nachdenken beißt uns das Toleranz-Paradoxon in den Allerwertesten: Wer nämlich der Intoleranz gegenüber tolerant ist, der stärkt aktiv die Intoleranz – auch und gerade wenn er gar nichts tut. Davon war schon Sir Karl Popper zurecht überzeugt.
Wie Demokratie zur Demontage der freien Gesellschaft führen kann
Die Gleichgültigkeit den Intoleranten gegenüber hat – gepaart mit etwa massiven Wirtschaftskrisen und sozialer Ungerechtigkeit – bereits in den 1930ern dazu geführt, dass demokratisch gewählte Führungsfiguren sich die Welt so gemacht haben, wie sie ihnen gefällt. Und damit eben nicht „dem Volk“ gerecht werden, wie sie zunächst behaupten. Zu Beginn tun sie so, als ob sie für „das Volk“ stehen, danach herrschen sie über „das Volk“. Sie werden von Opfern der „bösen“ Eliten, Medien oder Migranten etc., die angeblich den Schutz von starken Männern brauchen, schrittweise zu entmachteten Untergebenen, die zu tun haben, was ihnen befohlen wird.
Eine Übertreibung, die uns heute nicht betrifft? Nur, wenn wir aktiv werden und uns für die Gesellschaft einsetzen, in der wir tatsächlich leben wollen.
Es ist Zeit aufzuwachen.
Der Populismus verführt all jene, die Lust auf heiße Emotionen haben, auf grelle Feindbilder, die ihren Vorurteilen entsprechen und ihre Bedürfnisse befriedigen. All jene werden wie die Motten zum Licht gezogen, die sich und ihre Gewohnheiten zu bestätigen suchen. Es ist die Suche nach Selbstwertgefühl und nach Aufwertung, die Suche nach einem besseren Gefühl, die sie auf den glänzenden Hoffnungsschimmer in Form der Verkörperung von aalglatten „Gewinnertypen“ mit patriarchalem Charm hereinfallen lassen. Populisten verführen jene, die einer Zugehörigkeit zu den „Starken“ bedürfen, um sich geschützt zu fühlen. Sie sprechen all jene an, die „zurück zur Normalität von früher“ wollen. Nur dass es niemals wieder „normal“ zugehen wird. Dass diese scheinbar Starken auf die echten Fragen unserer Zeit keine Antworten haben ist dabei keine Neuigkeit. Wo die Entscheidungsträger weniger auf kompetente Sachlichkeit zum möglichst Besten aller und vielmehr auf emotionale Zugkraft und eigene Vorteile achten, ist die freie Gesellschaft in Gefahr.
Warum antidemokratische Kräfte attraktiv sind
Die vox populi, die „Stimme des Volkes“, wirkt offenbar sukzessive immer stärker auf immer mehr Menschen. Die mittig-Rechten, mitunter sogar die Linksorientierten, geben sich dem Opportunismus hin und surfen auf dieser Welle. Die sanfte Stimme der Mitte zersplittert zusehends weiter in viele Fragmente der Uneinigkeit. Sie ist in ihrer Gesamtheit dadurch mittlerweile so leise, dass sie nicht mehr gegen die platten Parolen der Lauten ankommt. Eine wachsende Menge an Menschen gibt sich den frohen Hoffnungen, die der Populismus predigt, hin. Wer genau diese Menschen sind? Sie sind gut untersucht und wurden vielfach dargestellt: die wirtschaftlich und digital durch die Globalisierung Abgehängten, die Alleingelassenen im ländlichen Raum, die schlecht ausgebildeten Männer, die aussichtslosen Jugendlichen, die Abstiegsgeängstigten der Mitte. Diese Klassifizierungen scheinen mir trotz einer fast spürbaren Nachvollziehbarkeit für all jene, die diesen Gruppen nicht angehören, zu kurz zu greifen.
Vom gemütlichen Früher über das holperige Heute zum mysteriösen Morgen
Schauen wir tiefer in die vielschichtigen Veränderungen, die unsere Gesellschaft seit einiger Zeit schon durchmacht, so finden wir faszinierender Weise gleich mehrere Themenfelder, die diesen Umbruch markieren. Wobei die Wandlung eine deutliche Richtung und eigentlich auch eindeutig erkennbare Ziele hat. Aber der Weg in die Gesellschaft der next generation bzw. der next dimension wird kaum professionell begleitet, weder durch politische noch durch zivilgesellschaftliche Integrationsfiguren. Es fehlt das klare Bild einer gelingenden Gesellschaft von morgen, also wie eigentlich genau das Zusammenleben funktionieren soll, wenn wir die Veränderungen dann irgendwann einmal endlich durchstanden haben. Ohne dieses Zukunftsbild, ohne vertrauenswürdige Leitfiguren sowie ohne glaubwürdige, leitende Medien als Wegbegleiter, ist der Stress der Unsicherheit dieser heftigen Umbruchszeiten so groß, dass der Regress, der Rückzug, die Abwehr, die Ignoranz – oder aber die Aggression, die Gewalt, der Kampf ungemein attraktiv werden. „Kopf in den Sand, „Zurück zum Alten“ oder „Kampf dem Neuen“ lauten dann die Devisen…
Was sich gerade ändert und wohin die Reise geht
Dass Menschen und Regionen, Kulturen und Staaten zudem auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen dieser Umbruchsphase stehen und unterschiedliche Prioritäten haben macht die Sache nicht leichter. Verständlich werden dadurch jedoch die ganz Europa ergreifenden Grabenkämpfe. Sobald man die Entwicklungslinien, die im nächsten Abschnitt dargestellt sind, ansieht, wird sonnenklar, wer warum wofür und wogegen kämpft. Manche wollen an der linken Spalte festhalten („die gute alte Welt“), andere wollen endlich in der rechten Spalte („die gute neue Welt“) ankommen. Kombiniert mit den Stress-induzierten Handlungsalternativen von Ignoranz, Abwehr oder Aggression ergibt sich überraschend schnell ein Abbild der Positionen von Menschen, gesellschaftlichen Interessensgruppen oder auch Parteien. Das Dilemma Europas ist, dass kaum jemand den Wechsel von „vorher“ zu nachher“ deutlich anspricht, ihn koordiniert, begleitet und den Menschen dabei hilft sich und die Gesellschaft schrittweise weiter zu entwickeln. Ein zweites Dilemma ist, dass Populisten die vorhandenen Klüfte absichtlich nach dem Motto „teile und herrsche“ vertiefen, sodass die Gesellschaft auseinanderzudriften scheint anstatt zusammenzuwachsen und gemeinsam zu Wachsen.
Entwicklungslinien und Bruchstellen der Europäischen Gesellschaft
- Analoge Welt –> Digitale Welt
- Glaube an ewiges Wirtschaftswachstum –> Nachhaltige Wirtschaft
- Nationale Gesellschaften/BürgerInnen –> International verflochtene Gesellschaft(en)/Europäische BürgerInnen/Global-Gesellschaft
- Institutionell-religiös Orientierung –> Individuell-spirituelle Orientierung
- Glauben(ssysteme) –> Wissen(schaft)
- Patriarchal Führende –> Gleichberechtigt Führende
- Autoritäre Systeme –> Demokratische Systeme
- Mono-ethnische Gruppen –> Multi-ethnische Gruppen
- Monokulturell geprägte Regionen –> kulturell vielfältig geprägte Regionen
- Exklusive, starre Identität –> Inklusive und liquide Identität
- Konkurrenz –> Kooperation
Wir bewegen uns mit unserer Lebenswelt schon seit Längerem von links nach rechts (im Sinne der obigen Aufzählung). Aber manchen geht das einfach zu schnell. Andere haben das Gefühl, die Basis ihrer Identität zu verlieren, fühlen sich angegriffen, wissen nicht mehr wer sie in der neuen Welt sein sollen – ohne sich die befreiende Frage zu stellen, wer sie eigentlich sein wollen. Dritte wiederum sehen nicht, wie die Zukunft aussehen kann. Vierte nutzen all dies aus und versprechen das Gewohnte aus dem Hut der verklärten Vergangenheit in die vorgestellte Gegenwart zu zaubern.
Dabei wäre alles so einfach. Wir verändern gemeinsam die in sich abgeschlossenen, inkompatiblen und Andere exkludierenden Systeme in eine Gemeinschaft, die mit Hilfe eines transkulturell-systemischen Rahmens (= Grund- und Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Säkularität) für das friedvolle Zusammenleben in aller Vielfalt sorgt.
Was die Demokratie der Zukunft schon heute braucht
Es sind vor allem demokratiefähige und -willige Europäische BürgerInnen, die unsere Gesellschaft heute schon braucht um morgen miteinander leben zu können. Wir brauchen Führende, die klar wissen, warum und wie wir alle gemeinsam, wenn auch vielleicht zeitversetzt, in der oben rechterhand angegebenen Spalte ankommen. Wir brauchen Medien, die emotional verantwortlich, sachlich kompetent und einfühlsam diesen Weg begleiten und das Ziel dabei nicht aus dem Augen verlieren. All dies verlangt Menschen, die wissen, was sie wollen – nicht für sich, sondern im Sinne der Menschheit, also im Sinne aller Menschen. Die mitgestalten wollen, aber nicht um der Macht, sondern um des Ergebnis Willen. Die einander erkennen und miteinander in einer Kooperationsgesellschaft diskursive Überzeugungsarbeit leisten können und wollen.
Es ist letztlich der Diskurs, der darüber entscheiden wird, ob wir miteinander leben lernen. Es gilt dabei der oftmals praktizierten pro-kontra-Logik, wie sie etwa im EU-Bashing in einer Reduktion auf „Ja oder Nein zur EU“ üblich wurde, eine Absage zu erteilen. Es ist das verstehende und einfühlende „sowohl-als-auch“, das unter dem Dach des „größeren gemeinsamen Ganzen“ aus Irritationen zunächst Informationen und letztlich Innovationen machen kann. Jeder einzelne zählt in diesem Prozess. Jeder Dialog ist ausschlaggebend.
Demokratie heißt aktiv mitreden und mitgestalten
Dazu können Gespräche zuhause oder auf der Strasse genauso beitragen wie Diskussionsrunden oder Medienaktivitäten. Private Postings sind dabei genauso wichtig wie Führungskräfte und andere gesellschaftliche role models und Meinungsmachende. Wo ein Wille, da ein Weg in eine gelingende Zukunft. Ich wünsche uns allen den Mut zum Willen und die Kraft, auf dem Weg zu bleiben, auf dass wir alle gemeinsam in einer rundum lebenswerten Zukunft ankommen.
Auszug aus meinem Beitrag zur ORF-Podiumsdiskussion „Der Auftrag: Demokratie“, aufgezeichnet im Radiokulturhaus am 06.11.2018
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