Eine Frage der Liebe
Ich schreibe sonst nie über die Liebe. Heute ist eine absolute Ausnahme. Das Thema ist mir zu unkonkret, zu ungreifbar. Damit kann ein tief empfundenes Gefühl, eine bezaubernde Hormonmischung, eine unerfüllbare Sehnsucht, reine Projektion auf Unerreichbares, eine reale Tatsache, die alles umfasst, gemeint sein. „Liebe” wirft unendlich viele Fragen auf, die unwahrscheinlich viele Antworten mit sich bringen. Ähnlich wie das Thema „Freiheit“. Heute will ich es dennoch wagen, etwas über die Liebe zu sagen. Warum?
Im Auftrag der Liebe
Weil ich vor wenigen Minuten doch glatt ein wunderschönes, ebenmäßiges, nicht zu übersehendes, echt großes Herz in meiner Kaffeeschale entdeckt habe. Und das offenbarte sich genau, als ich über die Liebe nachgegrübelt hatte. Ich trank gerade den allerletzten Schluck, heute ausnahmsweise mal mit Kokosblütenzucker drin, welcher sich zähflüssig zu zwei wunderschön symmetrischen, miteinander verbundenen Bogen in der Mitte der Schale formte, gerade als ich den Kopf zurücklegte und die süße Freude bis zum letzten Milliliter auskosten wollte. Von den beiden perfekten runden Ohren des Herzens zog sich der Herzkörper immer spitzer zusammenlaufend genau in meinen Mund hinein. Ich traute meinen Augen nicht. Oder eben doch – und das brachte mich zum Lachen… Ein Zeichen (um mit Brian zu sprechen)!
Dies ist der letzte Blog für heuer, der sich 2021 ja den zufällig auftretenden Gleichzeitigkeiten widmet, denen wir nur allzu gern Bedeutung verleihen. Das unübersehbare Zuckerherz weist mich also an, über jene Gedanken zu schreiben, die mich im Augenblick seines Erscheinens beschäftigten. So lautet zumindest meine Interpretation des augenfälligen Zusammenfallens von Gedanken und Ereignis. Es blieb übrigens nicht das einzige Zeichen. Als ich gerade unbekümmert über die wundersame Mischung jener kostbaren Ingredienzien, die „wahre Liebe“ ausmachen nachsann, geschah doch glatt noch etwas Wunder-volles. Doch first things first…
Die Grenzen der Liebe
So, jetzt braucht es zunächst mal scharfe Abgrenzung. Ich meine in der Folge mit „Liebe“ nicht die Eine Große, nämlich die zum Leben an sich oder zu den Menschen, zur Natur oder zum Wunder des Seins. Nicht jene stille zu sich selbst, die nicht das Ego nährt, sondern das Herz erwärmt, wenn man gerade gut bei und mit sich und für sich da ist. Nicht die bedingungslose Liebe zu den eigenen Kindern, zu anderen Familienmitgliedern, zu jenen, die man liebevoll begleitet, oder vielleicht auch zu (Haus)Tieren. Nicht die hormonell bedingte Gefühlsmischung mit dem falsch aufgeklebten Etikett „Liebe“ drauf: die in einer aufregenden Bekanntschaft, die das Kopfkino und die Körpersäfte anregt, auftaucht, oder die schlicht durch guten Sex ausgelöst wird. Oder die ein unerreichbares Gegenüber in einem hervorruft, mit dem man nur in seltenen kostbaren Momenten zusammenkommt, um dann in langen von Sehnsucht geplagten Absenzphasen von „der Liebe“ in einer irrealen Realität zu träumen.
Die Zeichen der Liebe
Nein, ich meine die Form von Liebe, die zeigt, dass ein/e PartnerIn tatsächlich zu einem selbst passt. Mit all seinen/ihren Eigenheiten, wirklich, weil alltagshaltbar kompatibel mit dem eigenen Selbstsein ist. In dem Sinne, dass in der Präsenz des Anderen das Wohlgefühl, miteinander zu sein, jedes Nerven prinzipiell, wenn schon nicht in jeder Situation, dominiert. Dass die grundlegende Wertschätzung jede Frustration, jedes Stirnrunzeln und Kopfschütteln ob der Eigenarten in Gefühlshaushalt, Denkweise und Verhaltensgewohnheiten des Gegenübers, aussticht. Dass die Attraktivität, die von sehenden Augen, von einem durch verschmitztes Lächeln den Seltsamkeiten des Lebens gegenüber gezeichneten Mund, und von einem Körper, auf den gut geachtet wird, ausgeht, all die unangenehmen und weniger anziehenden körperlichen Seiten überstimmen.
Und damit zur anderen Seite der Liebe: Nämlich, dass man im Licht der Augen des Anderen stets selbst so sein kann, wie man ist. So gesehen wird, wie man ist. So geschätzt wird, wie man ist. Dass das Gegenüber die Schwächen und Seltsamkeiten von uns nicht nur mühsam aushält, sondern als Teil unserer Persönlichkeit wahrnimmt. Natürlich gilt das in beide Richtungen. Beide akzeptieren einander, so wie sie sind – wobei nicht das Sich-in-das-Unvermeidliche-Schicken, sondern unterm Strich eben was Positives, Bereicherndes, Schönes übrigbleibt.
Und ganz grundlegend: Eine Liebe, die sich durch gegenseitige Inspiration und Bestärken, durch Zuhören und Aufmerksamkeit, durch Zärtlichkeit und Leidenschaft, durch eine in der Gegenwart des anderen erfahrende Steigerung von Sinn und Spaß entfaltet. Ok ich sehe es selbst, das alles zusammengenommen klingt irgendwie unwahrscheinlich, unerreichbar. Kann das alles denn überhaupt ein Mensch (geschweige denn zwei Menschen) verkörpern? Kann einer, können zwei, jemals projektionsfrei und selbstreflektiert die Verantwortung für das eigene Erleben, die eigenen Gefühle, die eigenen Lebensdramen übernehmend und den Mitmenschen in seinem Raum lassend, dabei nicht durch die eigenen Bedürfnisse die des anderen überlagern wollend, einfach „nur“ miteinander selbst sein?
Die Fähigkeit zur Liebe
Und genau an dieser Stelle meines Nachsinnens über die gelingende partnerschaftliche Liebe kam die zweite Synchronizität des heutigen Vormittags ins Spiel: Ich hörte nämlich Radio. Superfly, wer‘s wissen will. Und in dem Moment, in dem ich so über das Lieben und seine Ingredienzien brütete, drang Sade an mein Ohr: „It’s about trust“, singt sie überzeugt und überzeugend. Natürlich.
Erst Menschen, die sich selbst trauen, können sich einem anderen derart anvertrauen, dass eine Beziehung, in der nicht das in den meisten Beziehungen vorherrschende Ziehen im Mittelpunkt steht, entstehen kann. Dieses unangenehme und Beziehungen verleidende Ziehen zeigt sich, wenn der eine X und der andere Y will und dann darum gekämpft wird, wer Recht hat, wer Es bekommt, wer gewinnt, wer überlegen ist, wer mehr Raum und wer mehr Nähe bekommt etc.
Die Welt der Liebenden
Wer sich selbst vertraut, kann andere in deren eigenem Licht sehen weil er/sie sich aus dem Gefängnis der eigenen Sicherheit einer selbstgezimmerten Selbst- und Weltsicht, die ungehindert von Bedürfnissen und schwierigen Erfahrungen bevölkert wird, hinausbewegen kann. Wer auf sich vertraut, kann sich auf sich verlassen – und kann sich daher trauen, seine eigene Welt ein Stück weit zu verlassen. Um sich in der Welt des Gegenübers umzusehen, in sie einzufühlen. Hier beginnt Beziehung ohne das leidige Ziehen. Eine Beziehung, die über das Selbstsüchtige hinausgeht, die zunächst vorsichtig und im Laufe der Zeit eine immer stabilere Brücke zwischen den Welten der Beteiligten schlägt. Nicht, damit man ausschließlich auf dieser Brücke oder unter ihr zu leben beginnt (das geschieht, wenn zwei Menschen nur noch in der „Wir-Form“ von sich reden). Nein, die Brücke wird zwar miteinander bewohnt, doch die Welt des Gegenübers bleibt stets seine eigene heilige Welt und Heimat, deren Grenzen auf beiden Seiten wahrgenommen und respektiert werden. Man kann einander auf Einladung besuchen, doch kann sich bzw. hat sich auch wieder zurückzuziehen, wenn dies von einer der beiden Seiten her gewünscht wird. Weder wird der eine aus seiner und in die eigene Welt hineinzuzerren versucht, noch umgekehrt. Das Ziehen und Zerren findet in dieser Version von Liebe keinen Raum. Stattdessen herrscht ungebrochene Frei-Willigkeit. Denn wahre zwischenmenschliche Liebe und echte innere Freiheit bedingen einander. Liebe kennt keine Verpflichtung, wohl aber Ver-Antwortung: die Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit Ein-Samkeit. Den Einen Anderen nämlich schlicht Sein zu lassen. Und genau das, das Sein miteinander zu genießen und zu erleben, was sich daraus entfalten mag, das über die eigene Welt hinausreicht, ist das Reich der Liebe.