Nur ein Stück vom Glück?
Was macht uns wirklich glücklich? Ist es, dass wir Glück haben, also der sprichwörtliche „Lottogewinn“ in all seinen von uns erträumten Varianten? Oder sind es doch bestimmte, noch zu erlangende Umstände, die uns glücklich werden lassen: der Ring am Finger oder das eigene Baby, der coolste Job auf Erden oder massig Ruhm und Ehre? Lässt unsere Herzen vielleicht die pure Vorfreude (etwa auf den Urlaub, das romantische Dinner, das perfekte Weihnachtsfest) oder die Lust an der Sehnsucht (nach der nächsten Liebesnacht, dem idealen Partner, dem schönsten aller Zuhauses) höher schlagen? Mit größter Wahrscheinlichkeit führen alle diese Faktoren zu vorübergehenden Glücksmomenten. Was aber hält uns auf Dauer zentriert im richtigen Hormoncocktail, in der runden Stimmung, im geistigen Reichtum? Die „glücklichen Umstände“ vermögen genau dies nicht zu leisten. Dauerhaftes Glück entfaltet sich vielmehr entlang einer bunten Farbpalette ineinander übergehender Aspekte der tiefen Verbundenheit: Mit sich selbst, mit anderen, mit der Welt – und mit dem Großen Ganzen.
Solche Augenblicke tiefer Verbundenheit entstehen im inneren Freiraum, im aufgabenfreien Zwischenraum, im Unverplanten, in den Lücken zwischen allem und jedem. Diese Lücken sind die Tore zum Ungeahnten, sie bilden die Brücken zum Einssein.
Worauf blicken wir, wenn wir durch diese Spalten in unserer gewohnten Realität hindurch schauen? Und was lassen wir von dort an uns heran, was kommt bei uns an?
Eine kleine Geschichte
Unlängst besuchte ich eine Lesung des Autors Daniel Kehlmann. Das Gespräch auf der Bühne begann damit, rund um Trumps Wahlsieg und die Unglaublichkeit desselben zu kreisen. Ich wollte innerlich schon abschalten, dachte ich hätte bereits alles darüber gelesen, gehört, gesagt, auch ausreichend eigenen Senf dazu geschrieben. Kurz davor, enttäuscht aufzustehen und zu gehen, kippte das Gespräch. Es kippte hinein in die Novelle Kehlmanns. Seine Geschichte handelt von der Auflösung der Wirklichkeit. Von der Unsicherheit, die einen Menschen völlig gefangen nehmen kann, von der Unentrinnbarkeit der Lücken im Leben. Alles dreht sich um die völlige Bemächtigung der Sichtweise, der Wahrnehmungsfähigkeit und des Wesens des Ich-Erzählers durch das, was außerhalb seines Horizonts liegt. Die Öffnungen zu anderen Erlebniswelten pirschen sich an ihn heran, färben seinen Gefühlshaushalt neu ein und vereinnahmen ihn dadurch Stück für Stück. Die Novelle macht auch beim Zuhören Angst. Weil sie jene Möglichkeiten unfassbar spürbar schildert, die eigentlich ungreifbar sein müssten und dennoch zu präsent sind, als dass sich der Protagonist noch an seine bisherige Realität klammern könnte.
Mitten in dieser Lesung war ich mitten in einer Lücke gelandet, in jenem Bruch, der unsere Welt derzeit erschüttert. Mehr noch: ich war nicht nur mitten im Erleben der Bruches, von dem sich noch nicht zeigt ob er der Anfang eines Zusammenbruchs oder der Aufruf zum Aufbruch ist. Ich war zudem in Mitten des Reflektierens darüber, des Redens über das Lückenhafte, das Unglaublich Reale, das Neue Andere im derzeitigen gesellschaftlichen Bewusstsein gelandet. Das irgendwie noch Unwirklich Wirkende aber zugleich Tatsächlich Geschehende wird von Kehlmann dabei nicht als aussichtsreicher Möglichkeitsraum dargestellt, sondern de facto als Horrorszenario. Das trifft den Nagel auf den Kopf, nämlich auf den Kopf jener Menschen, die derzeit nicht so recht wissen, wie sie mit den Brüchen in ihrer, in unserer Wirklichkeit umgehen sollen.
Die Tücke der Lücke
Dass wir in unsicheren Zeiten leben, wissen wir. Sicherheitslücken soweit das Auge reicht. Dass die Gesellschaft sich selbst nicht mehr zu verstehen glaubt, bekommen wir mit jedem „unerklärlichen“ Wahlerfolg und in den diesbezüglichen Kommentaren vermittelt. Vertrauenslücken wohin das Auge blickt.
Im Laufe der Lesung wurde mir die absolute Unentrinnbarkeit, die unsere emotionale Sicht auf das Vage unserer Realität in Bezug auf unsere Erfahrung der Wirklichkeit hat, richtig deutlich vor Augen geführt. Das Problem mit der Offenheit ist, dass wir nicht kontrollieren können, was durch sie hindurch tritt. Die Herausforderung liegt also darin, anzuerkennen, dass unsere Sichtweise auf die Brüche unserer Welt mitbestimmt, was durch sie auf uns zukommt. Dadurch gestalten wir im Hier und Jetzt unsere Zukunft, selbst wenn wir nicht einmal verstehen, was im Hier und Jetzt geschieht. Nennen wir es der Einfachheit halber self-fullfilling-prophecy: Wir sehen, was wir sehen können (wollen) und kreieren damit, was wir erleben werden. Und offenbar sehen derzeit viele Menschen die Zukunft – also was durch die Risse in unserer Wirklichkeit auf uns zukommt – eher schwarz. Nur wenige Menschen sehen strahlend weiß und völlig unbekannt viele sehen bunt.
Bunt sehen zu können heißt, die Lückenhaftigkeit als Teil des Gemäldes seines Lebens wahrzunehmen. Wer bunt sieht, der kann die Bruchlinien in der eigenen Realität, aus denen das Leben mittlerweile nicht mehr nur an den Rändern des Scheinwerfers unseres Blickwinkels besteht, zum ersten einmal erkennen. Buntseher sind zweitens dazu in der Lage, die mit der eigenen Selbst- und Welt-Wahrnehmung interferierenden, reinsickernden Wirklichkeiten anzuerkennen. Und sie können noch mehr. Sie sind drittens dazu im Stande, von rein Sehenden zu den Malern der Wirklichkeit zu werden, indem sie ihre Fähigkeit, durch ihre Wahrnehmung die Form der Interferenzen zu beeinflussen, entwickeln.
Kennzeichen der Seligkeit
Selig sind die, die bunt sehen.
Denn sie lassen sich überraschen. Von Angst, von Lust, von Freude, von Frust.
Selig sind die, die das Leben als das sehen, was es ist.
Als Wunder und Wahnsinn, einzigartig und bedeutungslos angesichts der Weite des Raums und der Vergänglichkeit der Zeit.
Selig sind die, aus deren Lücken Licht strömt.
Denn sie werden die Zukunft auf eine Art beeinflussen, die das Leben lebenswerter macht.
Glückskinder
Glückskinder leben jenseits vom Glauben und diesseits der Angst.
Wer ist ein solches Kind des Glücks? Das Bild meiner alten Großmutter kommt mir in den Sinn. Besonders ihre Augen. Sie war als Jugendliche nahezu blind gewesen. Seither (und nach dem Krieg) erfüllte sie eine unerschütterliche Freude am Leben zu sein und das Leben zu sehen. Diese Freude strahlte durch ihre Augen. Sie waren stets hellblau und zugleich tiefdunkel. Denn sie sah mit ihnen durch die Oberfläche hindurch. Sie erkannte das Lückenhafte in Menschen, sah die Bruchstellen in Selbstbildern, die Ungereimtheiten der Welt, die Unbestimmtheit der Zukunft. Und was sie sah bewegte sie zutiefst. Ihre Augen waren glänzend vor Mitgefühl mit all jenen, die die Großartigkeit zu Sein und zu Sehen nicht spürten und daher sich und anderen Leid zufügten. Sie tat nichts mehr, nichts anderes, nichts Besonderes, außer zu sehen und zu lächeln und ab und zu aus vollem Herzen leise zu singen. Sie war kugelrund und liebte das Leben. Und weil sie rund mit sich war, liebte das Leben sie zurück.
Die Welt ist rund und wir sind am Leben.
Was siehst Du, Glückskind?
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …