Vor gar nicht allzu langer Zeit
Neulich stand ich vor der Eden, zum Reden – trug sich Folgendes zu: „Hearst Gsch…ene, wenns net sofurt de Pappn hoitst, vergiss I mi!“. Ich überblickte die Situation und entdeckte einen Möchtegern-Herkules in sein Handy brüllen. Also keine unmittelbare Gefahr im Verzug. Außer akustisch-emotionaler Umweltverschmutzung meine ich.
Hmmm dachte der Menschenfreund in mir. Und versuchte zu verstehen und sowohl den Inhalt als auch den Tonfall einzuschätzen. Mit dem Ziel, letztendlich dem gesamten Subjekt des Anstoßes vergeben und es in der Folge guten Gewissens vergessen zu können. Folgende Analysen liefen zur Hilfestellung in Richtung Rechtfertigen durch Erklären innerlich in Windeseile mir ab:
- „Armer Mensch“. Nicht sehr hübsch, nicht sehr gebildet, nicht sehr eloquent. Vielleicht in schwierigen Umständen aufgewachsen. Wenig Chancen, in der Gesellschaft auf Anerkennung zu treffen. Trotzdem. Deshalb muss er ja noch lange kein geistig unflexibles und emotional abgestumpftes Wesen sein. Oder? Ergo: Kein Entschuldigungsgrund.
- „Unangenehmer Mensch“. Verbaler Notstand und akustische Aggression: Tonfall und Wortwahl lassen auf wenig argumentativen Spielraum schließen. Man kann also wahrscheinlich nicht mit ihm reden, um die Hintergründe der emotional-verbalen Schmutzattacke zu ergründen. Emotionale Umprogrammierung durch Aufmerksamkeit und Zuhören scheinen im Moment ebenfalls keine Option zu sein. Dagegenreden: Keine Chance. Bleiben als Handlungsoptionen: Schweigen, vorwurfsvoll Schauen oder Ignorieren. Mögliches Ergebnis: Null positiver Einfluss. Erkenntnis: Wer spürbar unangenehm ist, mit dem will man sich schlichtweg auch nicht auseinandersetzen. Na gut, so viel wusste ich schon vorher… Also weiter im Denken.
- „Bedrohlicher Mensch“. Steht unter körperliche Höchstspannung. Achtung Gewaltbereitschaft. Signalisiert durch geballte Faust, weiße Handknöchel, verzerrten Gesichtsausdruck, zusammengekniffene Augen, zusammengebissene Zähne, hochrote Gesichtsfarbe, sprungbereites nach vorne Beugen. Kontaktaufnahme daher wenig ratsam. Explosionsgefahr. Aggression als Schutzschicht, Einsamkeit vorprogrammiert. Vielleicht bekommt er nur Zuwendung durch Gewalt? Weil sich sonst niemand rantraut an ihn – niemand, der nicht selbst bereit ist, eine einzustecken und/oder auszuteilen? Gewalt sucht Gewalt… Sieht nach auswegslosen Teufelskreis aus.
Über kurz oder lang
So komme ich nicht weiter. Lauter Sackgassen. Gewalt führt zu mehr Gewalt. Oder man wartet, bis die Wut verraucht ist. Und dann? Wie kann man lebende Vulkane von einer anderen Verhaltensweise überzeugen, geschweige denn zu einem veränderten Verhalten bewegen? Erste innere Reaktion meinerseits: Gar nicht. Das müssen die Gewaltandroher und –Täter schon selbst wollen. Aber warum sollten sie? Wo sie doch das Gefühl von Macht nur dann haben, wenn sie mit aller Kraft ihre körperliche Überlegenheit demonstrieren können? Wenn dieses Verhalten weg fällt, was bleibt ihnen? Wer sind sie dann? Was macht sie an Stelle dessen groß, stark und einflussreich?
Lügen und die kurzen Beine
Aber nein, damit lüge ich mir nur selbst in den nicht vorhandenen Sack. Wir können angesichts verbaler oder selbst körperlicher Gewalt immer etwas tun. Oder? Verantwortung und Ohnmachtsgefühle streiten in mir. Bald werde ich noch selbst so unrund wie Möchtegern-Herkules. Tun oder Nicht-Tun, das ist hier die Frage… Oder nur tun, wenn jemandem Gefahr droht? Aber dann lernt der Typ ja nie, anders mit Frustration umzugehen. Viel weiter komme ich auf diese Art auch nicht.
Langfinger leben länger
Meine Freundin, die mir bisher verständnisvoll beim Denken zugeschaut hat, schnappt sich eine Rose vom vorbeigehenden Rosenverkäufer. Sie trabt auf Herkules zu, sieht im ernsthaft in die Augen, lächelt sehr zart und subtil und reicht ihm die Rose. Er hört auch zu schimpfen, sieht vom Boden auf auf, senkt die Hand mit dem Handy. Seine Augen werden groß, er richtet sich mit ganzem Körper auf. Könnte gefährlich werden. Sie lächelt daraufhin noch etwas breiter, dreht sich um und geht, noch bevor er etwas sagen – oder tun – kann. Ich fühle mich wie in den 70ern (zumindest stelle ich mir vor, was die „Blumenkinder“ damals mit solchen Gesten sprachlos und zugleich lautstark sagen wollten). Doch siehe da, es wirkt. Er wird leiser und geht gemäßigten Schrittes weg. Sein Körper wirkt entspannter. Er ist zumindest vorübergehend von seiner Wut abgelenkt.
Der Rosenverkäufer lächelt und will kein Geld.
Die Moral von der Geschichte
Denken hilft manchmal nicht weiter. Zögern auch nicht. Aber im richtigen Moment etwas Überraschendes und Wohlwollendes tun wirkt. Die Einstellung zählt. Keine Moralpredigt, kein Besserwissen, kein Zurückstreiten, kein Dagegenhalten, keine Gewaltandrohung, kein Schimpfen. Weniger ist mehr. Zeichen setzen. Ruhe, Entspannung, Wohlwollen und Respekt körperlich ausdrücken. Weniger Worte, mehr Wesenheit. Ver-Trauen zeigen. Den Mut haben, sich offen zu zeigen.
Gut, werden Sie vielleicht sagen. So kämpfen Mädchen. Aber ich, 2 Meter großer Muskelmann? Kann ja keine Rosen schenken…
Männer und Macht
Ah ja, da war noch was. Der Hahnenkampf, das Testosteron. Das geistig-emotionale Siegenwollen, das körperliche Abreagieren. Hmmm. Wie wär‘s mit einer Zigarette oder einem Bier statt der Rose? Muss nicht funktionieren, zugegeben. Aber die Geste zählt, oder? Allerdings ist wenig Hoffnung auf einen positiven Ausgang gegeben, wenn sich der Aggressor angegriffen fühlt. Und ein Mann, der dem Vulkan auf spannungsgeladene Art zu nahe kommt, kann ihm leicht zum Ausbruch verhelfen. Gut, Sie sind ja jetzt 2 Meter groß und brauchen sich nicht fürchten. Aber was ist mit ihrem 1.74 Meter großen Freund, der zufällig alleine auf der Straße steht, als es passiert. Was tut er sinnvoller Weise? Er muss sich vielleicht anders mit der bedrohlichen Energie auseinandersetzen. Vielleicht muss er mitten hinein in den Vulkan…
Männer mag Mann eben
Männerfreundschaften sind was Schönes. Sich gegenseitig auf die Schulter klopfen. Oder auch mal härter schubsen. Wenn sich beide aneinander abreagieren können und wollen ist das vielleicht nicht immer ganz so schlecht. Powerkuscheln auf männlich. Stacheln statt Rosen. Und dann ein Bier gemeinsam. Und ‘ne Zigarette… Echte Freunde eben. Aber hilft uns das weiter, gerade wenn keine freundschaftliche Ebene vorhanden ist? Nein.
Frust und Freiheit
Die Kernfrage lautet: Wohin mit all dem Frust? Die richtige Kanalisierung des Aggressionsüberschusses ist die eigentliche Herausforderung. Gut – dafür ist Sport (machen und schauen) da, dazu gibt’s eben Männerfreundschaften oder den Wettbewerb im Business. Aber was ist, wenn sich die Sucht zu Siegen und die Angst vorm Verlieren auf alle Lebensbereiche ausdehnen? Ins Privatleben und auf völlig fremde Menschen, die weder freundschaftlich noch geschäftsmäßig verbunden sind. Dann regiert letztendlich der Frust, er nimmt überhand. Hier liegt die Gefahr. Der Frust sucht sich unbeteiligte Projektionsflächen, um sich abzureagieren. Es geht darum, den Stresslevel senken zu können und die eigene Mitte wieder zu finden. Aber dir probaten Mittel und Wege zurück in die Ausgeglichenheit scheinen oft zu fehlen. Oder das diesbezügliche Wissen und Können.
Doch die Freiheit des einzelnen endet beim Veräußern von aggressiver Energie, egal welcher Art: Durch bedrohliche Körperhaltungen, verbalen Drohungen, Beschimpfungen, Abwertungen. Oder durch unfaire Argumentation wie in Form von absichtlicher Falschinformation, Halbinformation, Lügen, Missinterpretation, Ignoranz u.v.m. All diese Verhaltensweisen bringen keine Lösung des Problems, sie lösen die Sucht nach dem Siegen nicht. Denn niemand kann immer gewinnen und Angst lässt sich nicht durch Siegen bekämpfen. Jemand, der ständig Siegen will, beweist sich und anderen einen ständigen Mangel an Selbstwertgefühl. Egal wie groß er sich aufplustert, er fühlt sich immer zu klein. Das ist ein Problem, das nicht einmal eine Rose, auch kein Zweikampf und auch keine Euromillion lösen können. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, ist das eigentliche Problem. Und diesem Gefühl entgegen wirken, können interessanterweise eben nicht Gewalt und Geld oder Siege. Sondern Aufmerksamkeit, bedingungsloser Respekt und Wertschätzung.
Frieden und Freude
Aber gilt deshalb die Formel Immer Frieden = Immer Freude? Ich glaube nicht. Vielleicht wäre ein Leben ohne Testosteron, ohne Grenzgänge gar nicht mal so lustig. Manche Menschen haben ihre Freude mit und an einem testosterongeschwängerten Mann – und an einer „starken“ Frau – vor allem, wenn beide ihre Kraft richtig, also nicht verletzend und im Einklang mit der Umgebung, einzusetzen wissen.
Aber alle anderen Menschen? Die wollen ihren lieben Frieden haben und erhalten. Zu Recht. Denn wer seinen eigenen Frust selbst halbwegs zu zähmen weiß, der will nicht auch noch den Frust von anderen serviert bekommen, geschweige denn ungefragt zum Frustabbau anderer hergezogen oder missbraucht werden.
Ich bin daher für die Einführung von gesellschaftlich anerkannten, einfach handzuhabenden und alltäglich verfügbaren Möglichkeiten zum Loswerden von Frustrationen aller Art. Beispielsweise durch den Bau einer Art Telefonzellen, gut gepolstert und schalldicht. In Unternehmen, auf Strassen, wo auch immer – verfügbar sollten sie sein. Ich nenne so eine Zelle jetzt mal Scream-Box. Da kann jeder, der sich akut frustriert und wütend fühlt, ohne Umschweife reingehen, schreien und hauen, was das Zeug hält… Und gut is.